Reutlinger Tagblatt 17.04.1996
„Wir müssen Berührungsängste im öffentlichen Bewußtsein abbauen“
Podiumsdiskussion zum Thema AIDS — Zwischen Großstadt und Provinz
Von unserer Mitarbeiterin Verena Sautter
REUTLINGEN. Zehn Jahre AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen. Eigentlich kein Grund zum Feiern, aber Grund genug, mit einem geballten Veranstaltungsprogramm
anzutreten, um die Immunschwäche ins öffentliche Bewusstsein zu rufen.
Mit einer Ausstellung, in der HIV-infizierte Junkies ihre Ängste und ihre Auseinandersetzung mit der Krankheit und dem Sterben in malerischer Form verarbeiten und einer Podiumsdiskussion wurde die Veranstaltungsreihe am Montag Abend eröffnet.
René Christ, Präventionsmitarbeiter der AIDS-Hilfe Baden-Württemberg und HIV-positiv, Elisabeth Neuner-Götz, Ärztin und Aids-Fachkraft im Gesundheitsamt, Sebastian Hambrecht, Krankenpfleger und ehrenamtlicher Betreuer der AIDS-Hilfe Tübingen und Sabine Faber, Mitbegründerin von „AktHiv“ in Gauselfingen, selbst HIV-positiv, machten mit der Moderatorin Beate Rau auf die mannigfaltigen Probleme aufmerksam, auf die ein „Positiver“ stößt – auf Ablehnung, auf Diskriminierung, aber auch auf offene Arme - zumindest bei einigen wenigen.
„Ich bin HIV-positiv“ - wer sich damit outet, muss mit einer völlig veränderten Lebenssituation zurecht kommen. Ausgrenzung und Diskriminierung durch die Gesellschaft sind die eine Folge - dies wurde in der Diskussion klar. Und auch, dass jeder die Verantwortung vor allem für sich, aber - auch den anderen gegenüber wahrnehmen muss. „Nur wenn man auf sich selbst achtgibt, kann man verhindern, dass man sich ansteckt,“ appellierte der junge René Christ. „Schaut her, ich war ein dummer Trottel‚ ich hab’ kein Gummi benutzt.“
Doch was geht in den Menschen vor, wenn sie das Resultat „positiv“ erhalten, das „gleich einem Meteoriteneinschlag“ auf sie hereinbricht? Nicht alle bewältigen es so wie Christ, der 27jährige Homosexuelle, der eben jenen Tag im Januar 1993 als seinen zweiten Geburtstag bezeichnet. Auch wenn mit seinem Entschluss, sich zu „outen“, die Probleme für ihn anfingen.
Er hat zu seinem Lebensmotto gefunden: „Man steckt immer in der Scheiße, nur die Tiefe ändert sich - da habe ich das Rudern angefangen.“ Und seine Krankheit als Chance genutzt. „Man wird sich seiner eigenen Endlichkeit bewusst, der Tod ist.für mich präsent, jeden Tag.“ Er fand Halt in der Familie - und bereitet sich auf das Sterben vor.
Genauso wie die Gauselfingerin Sabine Faber. Sie, die sich vor elf Jahren an einer Spritze infiziert hat, wagte zum ersten Mal den Schritt in die Öffentlichkeit. „Erstmal brach für mich die Welt zusammen, als ich davon erfuhr.“ Sie ging nach Indien. Dort hat sie zu sich gefunden, Überleben und Sterben gelernt. Jetzt lebt Sabine Faber auf dem Land und genießt die bessere Wohnqualität. Wenngleich sie nicht weiß, was passiert, wenn das Dorf erfährt dass sie infiziert ist und eines Tages auch bei ihr, die mit einem HIV-negativen Mann und zwei Kindern zusammenlebt, die Krankheit ausbrechen wird.
Sie empfindet ihr Nachdenken über den Tod als eine Aufgabe, der sich jeder Mensch, auch der scheinbar gesunde, stellen muss.
Auch in Reutlingen wird AIDS weitgehend tabuisiert - auch wenn hier - die Infizierungsrate bei Drogenabhängigen bei 50 Prozent liegt. Zum Vergleich: Im Bundesdurchschnitt beträgt sie 15 Prozent: Elisabeth Neuner-Götz, im Gesundheitsamt. für die AIDS-Beratung zuständig muss zweimal im Jahr Menschen mitteilen, dass ihr Testergebnis positiv ausfiel.
Anders als im Krankenhaus speist sie ihre „Positiven“ aber nicht nur mit Sprüchen wie „Achten sie auf gesunde Ernährung und ein geregeltes Sexualleben“ ab, wie es Christ im Krankenhaus widerfuhr. Sie versucht, den Menschen praktikable Hilfestellung zu vermitteln - im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Denn sie hat nur eine Halbtagsstelle. „Ohne die AIDS-Hilfe wäre ich ganz schön aufgeschmissen,“ sagt sie.
Die AIDS-Hilfe bietet vielfältige Hilfestellungen. Eine davon ist der „Buddy“, ein Synonym für den Freund, den Kumpel, der dem „Positiven“ in allen Lebenslagen unter die Arme greift. Sebastian Hambrecht ist ein solcher „Buddy“ und empfindet sein Aufgabenfeld als persönliche Bereicherung. „Ich habe in der Krankenpflegerschule so gut wie nichts über AIDS erfahren, wollte mehr wissen.“ So kam er zur AIDS-Hilfe.
So wie für ihn ist auch für den Infizierten René Christ AIDS zu einem ganz normalen Thema geworden. Auch wenn der in seiner Aufklärungsarbeit immer wieder an Grenzen stößt. Beispiel Schule: Da darf er, der „lebende Leichnam“, wenn er die Schüler über die Immunkrankheit informiert, das Schamgefühl der Eltern nicht verletzen, darf zwar zeigen, wie man ‚Kondome benutzt, aber keine verteilen. „Das könnte ja als Aufforderung zum Geschlechtsverkehr verstanden werden,“ schmunzelt er. Nicht die Jugendlichen, sondern deren Eltern sind es, die Berührungsängste haben. „Schwul und dazu noch positiv, da glauben die Eltern, ihre Kinder könnten sich an_stecken.“
Der Zahnarzt ist ein anderes Beispiel. „Ich‘ bin_zwei-, dreimal aus der Praxis geflogen, als ich dem Arzt erzählte, ich sei HIV-positiv,“ erzählt Sabine Faber.
Auch Christ hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Mittlerweile hat er einen Arzt gefunden, der ihn behandelt, allerdings bekommt er seinen Termin erst abends, wenn keine anderen Patienten mehr da sind - angeblich zu deren Schutz.
Das soziale Netz ist ein weiteres Beispiel. Weil Christ im Krankenhaus getestet wurde, steht das Testergebnis in seinen Krankenakten. Damit konnte er sich sozial nicht mehr absichern. Selbst die Pflegeversicherung greift nicht, wie er am Beispiel von Freunden erfahren musste, die er bei ihrem Sterben begleitete. Und den jungen Kranken, die sich noch gesund im Sinne von arbeitsfähig fühlen, rät das Arbeitsamt lapidar zur Frührente - weil sie nicht mehr vermittelbar sind.